Alltag und Identität _ Notizen aus Montréal   zuletzt   6   5   4   3   2   1 
Nationalbibliothek. [06.09.2005 pmg] Ob die Separatismusbestrebungen in Québec irgendwann erfolgreich sein werden oder nicht, allgemein begreift sich die französisch-kanadische Provinz als eigene, zumindest kulturell definierte Nation. Da ist es nur folgerichtig, dass es eine quebecische Nationalbibliothek gibt.
Seit 30. April dieses Jahres residiert sie in einem neuen Gebäude in der Innenstadt von Montréal. Neben den Fenstern besteht die Fassade fast ausschließlich aus grünlich schimmernden undurchsichtigen Glaslamellen, was Kritik und Spott gleich mehrfach zur Folge hatte.
Avi Friedman, Architekturprofessor an der Montrealer McGill-Universität kritisierte in einem Zeitungsartikel, die Grande Bibliothèque, wie sie auch genannt wird, sähe nicht wie eine Bibliothek aus, ein Passant könnte die Funktion des Gebäudes nicht ablesen.

Haupteingang der Nationalbibliothek. Foto: Paul Morf Gronert

Glaskrümel auf dem Asphalt hinter Absperrung um die Bibliothek. Foto: Paul Morf Gronert
Fehlendes Glaselement in der Fassade. Foto: Paul Morf Gronert

Noch viel mehr Aufmerksamkeit fand die Fassade des Hauses aber, als sich Glaselemente aus ihr lösten und auf die Straße bzw. auf den Bürgersteig stürzten. Von 6200 Glasplatten mit einer Länge von jeweils 2,2 Metern waren zweieinhalb Monate nach der Eröffnung der Bibliothek noch 6194 an ihrem vorgesehenen Ort verblieben. Immerhin. Glücklicherweise wurde bisher niemand verletzt. Vermutlich hatte die starke sommerliche Sonneneinstrahlung die Lamellen zum Zerplatzen gebracht. Bis die Ursachen eindeutig geklärt sind, sichert zunächst ein Zaun um das ganze Gebäude die fassadennahen Bürgersteigbereiche. Um die eingezäunte neue Bibliothèque nationale du Québec aber trotzdem vor möglichem Glasregen geschützt betreten zu können, wurden vor den Eingängen orientalisch anmutende Durchgangs-Zelte aufgestellt.
Und als wäre das noch nicht genug, zersplitterte Ende Juli auch noch die Glastür des Haupteingangs. Auch die Aufzüge fallen einer nach dem anderen aus. Bisher absichtigt die Verwaltung der Nationalbibliothek nicht, die Aufzüge auszutauschen und spricht von einer Anlauf- und Justierungsphase, die immer erforderlich sei.

Der Entwurf für die Grande Bibliothèque stammt von Patkau Architects aus Vancouver, die allerdings ursprünglich eine Fassade aus Kupferlamellen vorgesehen hatten. Das Montrealer Architekturbüro, das mit der örtlichen Durchführung beauftragt war, änderte auf Druck der Regierung das Material in Glas, um Kosten zu sparen. Daraufhin zogen sich Patkau Architects aus dem Projekt zurück.
Inzwischen scheinen sich alle an den Zaun gewöhnt zu haben. Möglicherweise wird die baustoffkundliche Experimentalreihe in Kombination mit der unverwechselbaren Stadtmöblierung unter laufendem Betrieb bis in den Winter ausgedehnt, um das Verhalten der Glasfassade bei zweistelligen Minustemperaturen zu testen.

-> Construction de la Grande Bibliothèque

Überblick 5

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