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Inoffizielle NFLD-Fahne im Taxi. Foto: Lena Schmidt
Neufundland. [10.11.2005 pmg] Was die Ostfriesenwitze in Deutschland sind, sind in Kanada Witze über Newfies. So nennen sich die Bewohner Neufundlands gerne selbst und so werden sie auch von den anderen Kanadiern bezeichnet. Neufundland ist eine große felsige Insel im Atlantik nordöstlich von Neuschottland. Gemeinsam mit einem dünn besiedelten Küstengebiet auf dem nordostkanadischen Festland namens Labrador bildet Neufundland die östlichste und die jüngste kanadische Provinz.

Bis Neufundland 1949 der kanadischen Konföderation beitrat, war die Insel eine britische Kolonie gewesen. Das damals abgehaltene Referendum ging knapp für den Beitritt aus. Doch immer wieder sind Stimmen zu hören, die eine Unäbhängigkeit von Kanada fordern.
T-Shirts, die zur Befreiung Neufundlands und Labradors ('Free NFLD') aufrufen, sind genauso im Verkauf wie solche mit dem Aufdruck 'Newfoundland Liberation Army'. Für alle, die es etwas seriöser und staatstragender bevorzugen, hat sich die so genannte traditionelle Flagge Neufundlands als Symbol derer etabliert, die sich mindestens von Kanada distanzieren und die Eigenständigkeit Neufundlands betonen wollen oder die sogar von der Unabhängigkeit träumen.

Saint John's Hafen mit Öffnung zum Meer und Signalhill links davon. Foto: Paul Morf Gronert

Die Flagge zeigt die Farben Grün, Weiß und Rosa und ähnelt damit der irischen oder der italienischen Flagge. Sie wurde nie offiziell geführt, aber vor allem im 19. Jahrhundert häufiger verwendet. Damit wird ironischerweise ein Symbol aus Kolonialzeiten zum Zeichen der Souveränisten. Tatsächlich ist die Trikolore auf der Insel neben der offiziellen Provinzflagge (die etwas konstruiert daherkommt) häufig zu sehen, sogar im Taxi (s. Foto). Eine Wochenzeitung der Provinz hat eine Abbildung in ihren Namenszug integriert. Die Zeitung heißt 'The Independent'. Im Rest von Kanada scheint man das alles - vielleicht auch im Vergleich zum Quebecer Nationalismus - nicht sehr ernst zu nehmen, von 'Pseudoseparatisten' ist die Rede.

Doch auch jene Newfies, die nicht vom eigenen Staat träumen, fühlen sich oft unverstanden. Von (Rest-)Kanada und von der Welt. Gerne wird die Homogenität der Bevölkerung, die eigene Art, Englisch zu sprechen, und die besondere wirtschaftliche Situation betont. Fischerei und Robbenjagd sind traditionell besonders wichtig. Überfischung (wohl nicht in erster Linie durch Neufundland selbst) führte zu Fangbeschränkungen, die den Fischern das Leben schwer machen. Tierschützer rückten vor Jahren die Robbenjagd in das globale Licht der kritischen Öffentlichkeit. Und in beiden Fällen fühlt man sich 'on the rock - auf dem Felsen' mit den eigenen Traditionen und Bedürfnissen unverstanden.

Berg und See im Gros-Morne-Nationalpark. Foto: Paul Morf Gronert

Tatsächlich wird Neufundland in Kanada wortwörtlich nur am Rande wahrgenommenen. Früher soll die Wetterkarte im kanadischen Fernsehen Neufundland gar nicht gezeigt haben.
Von der Hauptstadt Saint John's im Osten der Insel sind es über Atlantik bis zur britischen Hauptstadt London etwa 3700 Kilometer, während die Entfernung ans andere Ende Kanadas, nach Vancouver, etwa doppelt so groß ist. Zum Paralleluniversum Neufundland gehört auch eine eigene Zeitzone. Die Newfoundland Standard Time ist eine halbe Stunde versetzt zur Zeit der anderen Atlantikprovinzen. Das ergibt eine Zeitverschiebung zwischen Greenwich und Neufundland von dreieinhalb Stunden.

Neufundlands Hauptstadt ist nach dem Entdecker John Cabot (eigentlich Giovanni Caboto) benannt und nimmt für sich Anspruch, die älteste Stadt Nordamerikas zu sein. Saint John's liegt an einer von felsigen Bergen umgebene Bucht mit einer schmalen Öffnung zum Meer und besitzt so einen idealen natürlichen Hafen. Im Großraum Saint John's leben etwa so viele Menschen wie in Osnabrück. Und in Downtown ist auch hier ein gut sortierter Plattenladen zu finden (fred's, 198 Duckworth Street). Die anderen Teile der Insel sind vor allem für Freunde ausgedehnter, schroffer Naturschönheiten lohnenswerte Ziele. Im Westen befindet sich beispielweise der Gros-Morne-Nationalpark, der auch für Geologen ein aufschlussreiches Forschungsziel ist.

Siehe auch Nova Scotia, Cape Spear und Separatisten

-> fred's records
-> Wovon Neufundland mit 'Free-NFLD'-Shirts befreien?
-> Unterstützer der pink-weiß-grünen Flagge

Bunte Hausfassaden in Saint John's. Foto: Paul Morf Gronert

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